Samstag, 23. September 2023

Panorama deckt Fehler von anderen auf - und schweigt über die Fehler der ARD

Sieht man mit dem Ersten schlechter?

Mannheim/Hamburg, 21. Februar 2015. Die Süddeutsche Zeitung hat zusammen mit NDR und WDR „SZLeaks“ veröffentlicht – ein Scoop über Steuerflüchtlingskunden der HSBC. Kurz drauf veröffentlicht der Journalist Sebastian Heiser schwere Vorwürfe gegen die Süddeutsche Zeitung: Dort helfe man unter Einfluss von Banken Steuerflüchtlingen mit redaktionellen Berichten. Aktuell berichtet Panorama über die Propaganda der europäischen Grenzagentur Frontex in Bezug auf Flüchtlinge und Schlepper – dass die ARD diese Propaganda ebenfalls ganz unkritisch an ein Millionenpublikum verbreitet hat, wird knallhart unterschlagen.

Von Hardy Prothmann

Es stimmt so viel nicht an dem Bericht der Tagesschau zum reißerischen „Flüchtlingsdrama im Mittelmeer“ vom 31. Dezember 2014, Ausgabe 20:00 Uhr:

Die italienische Marine hat in der vergangenen Nacht offenbar  in letzter Minute ein Flüchtlingsdrama verhindert. Sie konnte einen führerlosen Frachter mit Hunderten Menschen an Bord in den Hafen von Gallipoli steuern.

sagt Nachrichtensprecher Jan Höfer. (Hier das Video in der Tagesschau ab 2:14′)

Der Beitrag zeigt Bilder von Menschen auf dem Frachter „Blue Sky M“. Die Bilder sind echt. Die Menschen stehen da und warten, von Bord gehen zu dürfen. Der Bericht der BR-Reporterin Anna Tillack beginnt:

Sie stehen dicht gedrängt an Bord des Frachters Blue Sky M. Fast 800 Flüchtlinge. Auf dem Weg in ein sicheres Land. Jetzt sind sie hier am süditalienischen Hafen von Gallipoli angekommen. Lebend. Das Ende einer Geisterfahrt, die gerade noch gut ging. An Bord, syrische und kurdische Flüchtlinge. Doch offenbar verlässt der Kapitän, vermutlich ein Schlepper, das Schiff. Per Autopilot steuerte die Blue Sky M mit neun Knoten direkt auf das italienische Festland zu.

 

blue sky m

Frachter Blue Sky M. Quelle: Guardia Costeria

 

Der Bericht stellt Aussagen der Küstenwache als absolut dar. Es folgen Bilder und Informationen zu den Flüchtlingen und dann der obligatorische „Aufsager“. Reporterin Tillack weiß Bescheid:

Im vergangenen Jahr sind mehr als 160.000 Flüchtlinge nach Italien über das Meer gekommen. Menschenhandel ist für die Schleuser zum gewinnbringenden Geschäft geworden. Die Verzweiflung von Menschen in Bürgerkriegsregionen nutzen sie immer skrupelloser aus.

Die Reporterin guckt ernst in dieser Silvesternacht – die Panorama-Moderatorin Anja Reschke am Donnerstag nach Aschermittwoch auch. (Video der Sendung hier.) Sie moderiert die Enthüllung der investigativen Fernsehredaktion über die „Frontex-Lügen“ zur Blue Sky M:

Was ist es schön, wenn sich ausnahmsweise mal alle einig sind. Zum Beispiel beim Thema Schlepper. Widerlich. Menschenverachtend. Wie sie aus der Not der Flüchtlinge auch noch Kapital schlagen. Da regen sich alle mal so schön richtig auf. Man hat also Schuldige gefunden, die für das Elend im Mittelmeer verantwortlich sind.

Bis hierhin sind sich Frau Tillack und Frau Reschke einig. Dann folgt der Satz:

Ist ja auch viel bequemer auf andere zu zeigen, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. (…) Erinnern Sie sich noch? Anfang des Jahres. Flüchtlinge auf schrottreifen Frachtern. Allein gelassen. Mitten auf dem Meer. Ein neuer Grad der Grausamkeit hieß es damals.

 

anja reschke

Neuer Grad der journalistischen Grausamkeit? Moderatorin Anja Reschke und Reporter Stefan Buchen prangern Propaganda und falsch informierende Zeitungen an – dass die ARD dieselbe Propaganda verbreitet hat, darüber erfahren die Zuschauer genau nichts. Quelle: Panorama

 

Dann folgt der Bericht von Stefan Buchen. Der Film deckt auf, dass „viele Zeitungen der Propaganda von Frontex“ aufgesessen sind und zeigt die „Schlagzeilen2. Dass die „Schlepperbande“ nicht geflohen ist, sondern der italienischen Marine sogar geholfen hat und die vierköpfige Schiffsmannschaft nun im Gefängnis sitzt, obwohl sie auch eine Art „Flüchtlinge“ sein könnten. Investigator Buchen erinnert an das, was auch die Tagesschau einige Wochen zuvor vermeldet hatte:

Die offizielle Version. Skrupellose Schlepper hatten die Flüchtlinge auf dem Frachter Blue Sky M in diese Gefahr gebracht.

Gezeigt werden zu Anfang dieselben Bilder wie im „Bericht“ der ARD-Reporterin Anna Tillack. Und Herr Buchen sagt:

Frontex, die Grenzschutzagentur der EU spricht von einem neuen Grad der Grausamkeit. Wie eine feststehende Tatsache bringen viele Zeitungen das Zitat auf der Titelseite.

Der Rest des Films überführt Frontex als skrupellose und menschenverachtende Flüchtlingsabwehrmaschinerie, entlastet die Mannschaft der Blue Sky M vollständig. „Schrottreifer Frachter“? „Skrupellose Schlepper“? Alles gelogen. „In letzter Minute“? Das Schiff wurde noch weit vor der Küste von der Marine aufgebracht.

Der CDU-Politiker Armin Schuster wird ins Zwielicht gerückt. Weitere Bilder zeigen, dass die Menschen im Frachtraum mit ordentlich Platz, statt dichtgedrängt an der Reling die „Reise“ verbringen konnten.

All das hat Herr Buchen nach einer „kurzen Recherche“ herausgefunden. Was er nicht herausfindet: Wieso kam das Militär an Bord und war der Frachter nun in Fahrt oder nicht? Beides wird aber nicht thematisiert. Weiteren Fragen geht er nicht nach: Ein Flüchtling behauptet, er habe 6.000 Dollar bezahlt. Wenn das jeder der 750 Flüchtlinge bezahlen musste, kommen 4,5 Millionen Dollar zusammen. Wer verdient das Geld? Was kostet das Schiff, was passiert damit? Alles offene Fragen, die offenbar nicht zur Recherche passten.

Und von Seefahrt haben weder die Reporterin Tillack, noch Reporter Buchen, noch Moderatorin Reschke scheinbar irgendeine Ahnung. Das Dümmste, was man machen kann, ist im Sturm in der Nähe von Küsten zu navigieren – das Gegenteil wird behauptet, indem der Flüchtling, der sicher auch kein Seemann ist, das als „verantwortungsvoll“ darstellen kann. Störende Details, die man besser nicht hinterfragt.

  • Ich habe nur wenige Minuten gebraucht, um zu recherchieren, dass die Vorwürfe gegenüber den Tageszeitungen 1:1 wie oben beschrieben gleichermaßen gegenüber der Tagesschau erhoben werden müssen – doch kein Wort davon im Film von Panorama. Warum nicht?
  • Hatte Panorama keine „kurze“ Zeit für eine Recherche, die mir in wenigen Minuten gelungen ist?
  • Warum gibt es keinen Hinweis, dass die ARD dieselbe Propaganda als „offizielle Version“ an viel mehr Menschen ausgestrahlt hat, als die gezeigten Zeitungen Leser haben?
  • Handelt es sich um eine bewusste Täuschung der Zuschauer, um eine schlampige Recherche der Redaktion oder gar um ein unehrenhaftes Verhalten, weil man nicht in der Lage ist, selbstkritisch zu sein?
  • Oder hat man Angst um Aufträge und Karrieren, wenn man den eigenen Laden anprangert?

Anja Reschke moderiert auch das Medienmagazin Zapp des NDR – dort schaut man gerne anderen Medien auf die Finger und – empört sich. Frau Reschke hat sich aktuell höchstpersönlich über den Journalisten Sebastian Heiser empört, weil der unangenehme Informationen über eine mutmaßliche Schleichwerbung bei der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat, die wiederum mit dem WDR und NDR zusammen einen Steuerflüchtlingsskandal von Kunden der HSBC aufgedeckt hat.

Sebastian Heiser wiederum konnte belegen, dass Frau Reschke sein Themenangebot über „Schleichwerbung bei der Süddeutschen“ vor Jahren abgelehnt hatte – übrigens auch das Medienmagazin Zapp.

Der stellvertretende Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Wolfgang Krach, wies die Vorwürfe zurück und meinte, Herr Heiser habe niemals die vorgeworfenen Missstände angesprochen – stimmt nicht, berichtet Herr Heiser.

Aktuell gibt es Vorwürfe gegenüber Herrn Heiser, er habe Kollegen bei der taz ausgespäht – wer berichtet sofort darüber, zeigt den Mann im Bild und nennt den vollen Namen, ohne dass feststeht, ob dass überhaupt stimmt? Das Medienmagazin Zapp. Und wer retweetet sofort den Beitrag von Zapp? Anja Reschke.

  • Ist es Blindheit auf dem Ersten Auge?
  • Angst vor beruflichen Konsequenzen?
  • Will man sich die Empörung nicht kaputt machen lassen?

Also knallharter Opportunismus oder was führt dazu, dass Top-Leute wie Anja Reschke, engagiert beim Netzwerk Recherche, dem Top-Verein der Recherchejournalisten, nicht von selbst auf die Fragen kommt:

  • Was haben wir als ARD eigentlich damals berichtet?
  • Lassen wir das mit den Zeitungen dann raus oder thematisieren wir als bedeutende journalistische Redaktion nicht auch dringend, dass innerhalb der ARD viel zu oft auf dünnem Eis berichtet wird?
  • Müssen wir nicht dringend darauf hinweisen, dass viele Berichte in der ARD nichts anderes sind als umgeschriebene Presse-Propaganda?

Übrigens: Am Morgen des 31. Dezember 2014 berichtete die Tagesschau noch vergleichsweise verhalten über die „Geisterfahrt“ der „Blue Sky M“. Auch das lässt sich innerhalb kürzester Zeit recherchieren – bis zur Hauptsendezeit wurde die Story ordentlich aufgepimpt. Wir erinnern uns an Anja Reschke und warten, bis sie mal derart moderiert:

Wie schön wäre es, wenn sich ausnahmsweise mal alle einig wären. Zum Beispiel beim Thema Berichterstattung über Schlepper in der ARD. Widerlich. Menschenverachtend. Wie die Fernsehscheinheiligen aus der Not der Flüchtlinge auch noch Kapital schlagen. Doch darüber regt sich niemand so richtig schön auf. Denn man wird keine Schuldigen finden, die für das Elend im Journalismus verantwortlich sind.

Transparenz:

Ich bin Gründungsmitglied von Netzwerk Recherche und habe Frau Reschke einmal vor vielen Jahren als sympathische und dynamische Kollegin in Hamburg bei einem Jahrestreffen kennengelernt. Für den NDR habe ich noch nie gearbeitet, für den WDR früher Mal, für die Süddeutsche hier und da mal und seit dem „schwarze-Kasse-Skandal“ beim Netzwerk Recherche bin ich dort kein Mitglied mehr, überlege aber wieder einzutreten, weil ich als Mitglied vielleicht mehr bewirken kann, als von außen.

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Über Hardy Prothmann

Hardy Prothmann (50) ist seit 1991 freier Journalist und Chefredakteur von Rheinneckarblog.de. Er ist Gründungsmitglied von Netzwerk Recherche. Er schreibt am liebsten Porträts und Reportagen oder macht investigative Stücke.