Samstag, 23. September 2023

Das totale Medienversagen

Es ist eben nicht wie im Krieg – noch nicht

Mannheim/Istanbul, 16. Juni 2013. Die Bilder aus Istanbul und vom Taksim-Platz und dem Gezi-Park sprechen eine klare Sprache – in Istanbul geht die Polizei mit kompromissloser Härte und Gewalt gegen Demonstranten vor. Es herrscht Chaos auf den Straßen – es gibt verletzte Personen in großer Zahl. Wer auch nur einen Funken Phantasie hat, weiß – die Luft muss beißend sein, die Bedrohung real, die Angst groß. Insbesondere TV-Medien haben den Stoff, den sie brauchen, Chaosbilder. Dazu betroffene Moderatoren und aufgeregte Reporter. Dienst das der Information oder der Quote? Spätestens, wenn alle von „wie im Krieg“ reden, ist die Antwort klar: Es geht um Quote nicht um Aufklärung. Die Türkei ist nicht mehr weit von einem Bürgerkrieg entfernt – wer das aktuell schon als „wie im Krieg“ bezeichnet, disqualifiziert sich selbst.

Von Hardy Prothmann

Die betroffenen Reporter bei ARD und ZDF sprechen von „schlimm“, „schlimmer“ bis „Krieg“, wenn sie ihre Aufsager vor Kulisse machen. Das heißt, sie stehen irgendwo, haben die Ruhe, dies minutenlang tun zu können und versuchen gleichzeitig glaubhaft zu machen, sie seien mitten im Geschehen.

Wie geht das? Atmet der normale öffentlich-rechtliche Reporter Reizgas statt Atemluft und ist deswegen auch in der Situation gut bei Stimme?

Sie berichten davon, was sie gesehen haben – zeigen aber keine Bilder. Hatte der Kameramann immer wieder gerade Pause?

Das ZDF zeigt eine aufgebrachte Claudia Roth, die von „wie im Krieg“ spricht. Das wird so gesendet. War Frau Roth schon mal im Krieg oder einer der Reporter?

Krieg ist beispielsweise in Afghanistan, in Pakistan, in Syrien. Dort, wo es nicht „wie im Krieg“ ist, sondern tatsächlich Krieg herrscht, fehlen seltsamerweise Aufsager von aufgeregten Reportern. Kein Wunder.

In Kriegsgebieten wird nämlich scharf geschossen, da explodieren Sprengkörper aller Art. Da gibt es Minen und Feuerattaken und Luftangriffe und schreckliche Massaker.

Das sollten Medien eigentlich auseinanderhalten könnten. Tun sie aber nicht, wenn es um Quote und Klicks geht.

Spiegel online macht die Klickzahlen nach oben dreschen wollen, aber von ARD und ZDF erwarte ich – leider vergeblich – seriöse, überlegte Nachrichten.

Leider hecheln die beitragsfinanzierten Sender der sensationsheischenden Kriegsgröhler-Meute hinterher – ohne Sinne und Verstand.

Um das nochmals einzuordnen: Bislang sind das Großdemonstrationen, Massenproteste. Es gibt unverkennbar eine übergreifende Polizeigewalt. Es gibt einen Angriff auf das demokratische Recht der Demonstrationsfreiheit. Der türkische Minsterpräsident Erdogan gebirt sich unbarmherzig und als Hartliner – aber von Krieg kann hier (noch) nicht im Ansatz die Rede sein.

Es soll bislang fünf Tote im Verlauf der Proteste und der Polizeimaßnahmen gegeben haben. Das sind fünf Tote zuviel und hier müssen politisch die Konsequenzen aus diesen unhaltbaren Zuständen gezogen werden.

Einer wäre beispielsweise, dass Deutschland sofort alle Beziehungen zur Türkei abricht oder zu Erdogan. Der Ministerpräsident bezeichnet tausende und zehntausende Menschen als „Terroristen“ und „illegale Gruppen“. Wenn dem so ist, muss die Bundeskanzlerin jede geeignete Maßnahme ergreifen, um uns in Deutschland vor diesen „Terroristen“ zu schützen – das wird doch sonst auch so gemacht.

Wenn dem nicht so ist, sollte man die Menschen vor Erdogan schützen und politisch verantwortlich handeln.

Die Bilder vom Taksim-Platz und dem Gezi-Park erinnern an den arabischen Frühling – in Kairo oder Tunesien. Aber nicht im Ansatz an die Bürgerkriegszustände in Libyen.

Das könnte sich ab Sonntag ändern – wenn eine von beiden Seiten anfängt, scharf zu schießen. Hoffen wir, dass es nicht  so weit kommt.

Und hoffen wir, dass zumindest ARD und ZDF zur Vernunft kommen und eine ordentliche Berichterstattung anbieten. Da gilt die alte Weisheit: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

 

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Über Hardy Prothmann

Hardy Prothmann (50) ist seit 1991 freier Journalist und Chefredakteur von Rheinneckarblog.de. Er ist Gründungsmitglied von Netzwerk Recherche. Er schreibt am liebsten Porträts und Reportagen oder macht investigative Stücke.